Aus der Hüttenwerkstatt
So wie immer - aber immer anders
- Geschrieben von: Günter Opitz-Ohlsen
© GOO, 2013
Komparse - eine Ortsbestimmung
- Geschrieben von: Günter Opitz-Ohlsen
Den Standort genau bestimmend in etwa 36 cm von der Kamera entfernt, nachgemessen mit dem Zentimetermaß und nicht mit dem Lasergerät, das die Entfernung auch in Millimeter angezeigt hätte. Die Position wird mit einem Kreidekreuz markiert und auf „Bitte“ wartend steht er da, denkt an grüne Gärten, die mit dem Bunt der Blumen ausgelegt sind, einen Teppich aus Farben und er spricht ganz leise. Im Hintergrund ist es dunkel und die Scheinwerfer sind genau ausgerichtet leuchten auf Leinwände, die das Licht nicht reflektieren, es verschlucken und die Temperatur ansteigen lassen in diesem lichtdurchfluteten Raum, der eine Deckenhöhe von mindestens fünf Meter hat. Die Bühne, dort findet das statt, was man später sehen soll, was später digital in die Welt gepustet wird, damit jeder das Produkt sieht, für das der Mensch auf der Bühne sich hergibt, für das er in der Geometrie der Inszenierung an genau markierten Punkten aufgestellt wurde, zwar nur einen Bruchteil seines Lebens ausmachend aber trotzdem manchmal auch einen Bruchteil zu viel.
Werden die ausgemessen Raum-Zeit-Koordinaten jetzt stimmen? Er ist sich nicht bewusst, dass es hier um alles geht, was allerdings so bedeutungslos sein wird, wie das Licht, das hier verschwindet, wie der Lampenträger, der Komparse, der sich nur hinstellt, damit die Position mit der Kamera genau ausgerichtet werden kann, damit beim Dreh alles an seinem Platz ist und keine Permutation der Personen mehr nötig ist, um die richtige Stellung zu finden. Auf den Punkt genau und dann doch immer wieder etwas anders. Das gleiche wird in sehr vielen Variationen geprobt, aufgenommen und später dann im Schneideraum in die gewünschte Reihenfolge gebracht. Aber all das ist ihm nicht bewusst, der jetzt hier steht und seinen Einsatz gar nicht hat, weil er das Hintergrundrauschen spielt, nein er ist das Hintergrundrauschen, unauffällig auffällig, so wie es später ins Bild gesetzt werden soll, mit dem Zentimetermaß ausgemessen und einer geometrischen Konstruktion gleichend, die er in der Schule bei Dreiecken geübt hat und hier zur Anwendung bringen kann: Einen Kreis um Punkt A schlagend und dann die Mittelsenkrechte zu Strecke BC mit dem Kreis um den Hilfspunkt D zum Schnittpunkt bringend, dann stehst du im Fokus der Szene, die heute aufgenommen werden soll.
Der Komparse, der wartet, den größten Teil der Zeit, die er an der Produktion teil hat, er wartet auf seinen Einsatz, den er zeitlich nicht kennt und sich deshalb an eine Mauer drück, den Tee trinkt, der ihm angeboten wird an einem Buffet, das reichlich beladen ist mit allerhand aus aller Welt, weil wir inzwischen global essen und folgerichtig auch global denken und in diesem Fall vor allen Dingen global warten, damit endlich das Zeichen kommt, ein Mensch auf dich zukommt und dir etwas sagt, was du nicht verstehst, von dem du aber genau weißt, wenn du dich jetzt nicht in Bewegung setzt Richtung Bühne, dann können sie hier sehr laut werden und machen dich vielleicht zur Schnecke, weil du so ein Greenhorn bist, das die Zeichen eben nicht versteht, die im Zusammenhang der Inszenierung eben doch an einer Hand abzählbar sind und keine Unendlichkeit widerspiegelt, wie die Zahlenräume der Mathematik.
Dann kommt der Moment, den der Fotograf nur richtig festhalten kann und ihn somit zur zeitlosen Ewigkeit erheben kann, jetzt kommt dein Moment, die Anweisungen sind gegeben, du sollst eben sehr natürlich sein, etwas erklären, was es nicht gibt in diesem Zusammenhang und jetzt erst zur Scheinrealität in deinem Kopf sich aufplustert wie ein Pfau. Aber das willst du nicht, weil du eben der Hintergrund bist und der Hintergrund, der jetzt in diesem Moment einen Menschen das Leben kostet, weil er sich im Krieg befindet, der jetzt in diesem Moment per Knopfdruck Überweisungen auslöst, die Cyberkriminelle eben wochenlang geplant haben, in diesem Moment, in dem hunderte Menschen überflüssiger Weise an Hunger sterben, obwohl es genug gibt für alle, in diesem Moment, in dem ein Mensch erleuchtet wird und seine Erleuchtung auf die andere Welt ausstrahlen lässt, in diesem Moment, wo Milliarden gespart werden, damit die Armen noch weniger haben und die Gläubiger ihr Geld erhalten, in diesem Moment, in dem sich die Erde mit einer Geschwindigkeit von 1666 km/h um sich selbst dreht und du mitten auf ihr stehst und nichts davon merkst, in diesem Moment ist es soweit, du bist dran, um den Hintergrund zu füllen, dem Hintergrund seine unendlichen Wirklichkeiten zu geben und noch eine hinzuzufügen, in diesem Moment bist du fokussiert, auf einen Punkt ausgerichtet, so wie du dein Leben fokussiert hast und Punkte gesetzt hast, die du nun nicht mehr verbinden kannst.
© GOO, Mai 2013
JanuarDeutschland
- Geschrieben von: Günter Opitz-Ohlsen
An der Bushaltestelle wartend, das kleine Buch in der Hand haltend, die Kurzgeschichte lesend von der gelben Straßenbahn und den fünf Menschen, von dem alten Mann, der nachts die Stimmen hört in den Lüften, die Stimmen der Toten, die keinen Platz mehr haben, und dem blassen Mann, der seine Mutter verloren hat im Novemberdeutschland, damals als die Geschichte geschrieben wurde. Ich betrete den gerade angekommenen blauen Bus, der sich absenkt, um die Fahrgäste in diesem Januardeutschalnd zu Ihren Zielen zu bringen.
"Die Telefonkarte habe ich dir hingelegt!", sagt eine Frau laut zu dem neben ihr sitzenden Mann. "Heute Morgen habe ich sie dir hingelegt!", und ein Streit beginnt, den ich nicht so recht verstehen kann, der auszuufern droht. Immer heftiger wird die Stimme der Frau und der Mann antwortet leise, kaum hörbar für mich, und die Frau wird immer lauter.
Keine Stimmen, die aus der Luft zu uns reden, oder doch, aber keine Toten, die zu mir sprechen, lebendige Menschen, die sich streiten wegen einer Telefonkarte, und die Toten sprechen doch zu mir, gerade jetzt brennt es, die Flammen kann ich sehen, obwohl ich nie etwas Derartiges miterlebt habe, der Tod ist ein Meister aus Deutschland, doch den Geruch von verbrannten Menschenhaaren nehme ich nicht wahr, nur die Stimmen, die Schreie, die man sonst nicht hört, während die Frau neben mir immer lauter wird, aufsteht und sich wegsetzt.
Da sind sie die Bilder der letzten Jahre aus Lübeck oder Rostock, aus ... oder ..., und die Bilder, die nie gezeigt wurden und die Stimmen, die nie zu hören waren, liegen in der Luft im Bus wie in der Geschichte. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, das ist noch heute wahr, wenn all die Toten, die keinen Platz mehr finden unter uns sind, zu uns sprechen, als säßen sie neben uns. Dennoch sitzen sie neben mir, und die Frau hat sich wieder zu ihrem Begleiter begeben, streitet sich weiter über die Telefonkarte, regt sich noch heftiger über ihr Gegenüber auf, von dem sie nicht lassen kann. Warum auch: wir lieben das, was wir hassen, wir töten das, was wir lieben.
Und ich höre den Gleichschritt, das Getrampel der Stiefel, sie marschieren wieder überall in der Welt, verbreiten Hass und Tod. Sieg Heil dröhnt es in meinen Ohren, die Welt wollen sie brennen sehen und die Toten sprechen zu mir: Siehst du es nicht, hörst du es nicht? Und sie marschieren immer weiter, überall auf der Welt haben sie sich festgesetzt. Und ich höre die Toten aus den Lüften, da liegt man nicht eng, und ich höre das Getrampel der Stiefel, immer heftiger, immer unerträglicher.
Der Bus erreicht sein Ziel, die Frau ist allein, ich bin auf dem Weg zur Arbeit und denke über das nach, was ich gerade erlebt habe. Gebrochen durch eine Geschichte, wie das Licht im Wasser, habe ich einen anderen Weg eingeschlagen, habe ich eine andere Realität kennengelernt, die nur für mich ist, heute in diesem Januardeutschland, das sein Gesicht verhüllt in Kälte und Nebel. Die Worte erfrieren, die Bilder vereisen.
© GOO, September, 2008
Hereinspaziert
- Geschrieben von: Günter Opitz-Ohlsen
Hereinspaziert, meine Damen und Herren. Vergnügen sie sich auf unserem Streitwagen. Eine einmalige Gelegenheit, die sie sich nicht entgehen lassen sollten. Der Streitwagen ist für sie da. Der Streitwagen macht sie stark. Der Streitwagen ist einfach notwendig. Wie, sie haben sich noch nie gestritten? Sind sie denn ein Mensch? Jeder streitet sich und entwickelt ungeahnte Energien, die er an seine Umgebung abgibt und somit die natürliche Unordnung erhöht. Streiten sie sich jetzt, vielleicht ist es die letzte Gelegenheit dazu.
Spüren sie, wie ihre Wut, ihre Enttäuschung, ihr Ärger sich in ihrem Körper ausbreitet, die Hormone wabern lassen und das Mundwerk automatisch steuert. Lassen sie ihren Gefühlen freien Lauf, aber bitte nicht ihren Taten. Sie sollen sich streiten, bitteschön, aber nicht prügeln. Nein, das wollen wir nicht. Nein, das ist kein Streit. Beim Streiten will man etwas. Und der Wille ist etwas, was vorhanden sein muss. Wenn sie willensschwach sind, dann kaufen sie unser W-Pille. 20 Tabletten zum Vorzugspreis von nur 10 Euro. Nach der Einnahme nur einer Pille mit einem Glas Wasser spüren sie schon, wie es in ihnen brodelt, wie der Wille in ihnen aufsteigt und etwas will, was andere vielleicht nicht wollen. Ja, dann ist die Gelegenheit günstig und sie sind reif für unseren Streitwagen. Es gibt diesen übrigens in verschiedenen Größen. Den dualen Streitwagen, der ideal für Ehestreitigkeiten ist. Dort finden sie Dinge, die sie idealerweise für den Ehestreit benutzt werden können: Wasserbomben, Farbbeutel und andere ungefährliche Wurfgegenstände. Ja, das ist Spaß für die ganze Familie. Übrigens: Die Familienkarte ist billiger. Erkundigen sie sich an unserer Kasse oder buchen sie einfach ein Streitwochenende auf www.ichknalldirgleicheine.de. Sie werden sich über sich selbst wundern, wie befreiend so ein Streit sein kann. Also nutzen sie die Gelegenheit, sofort. Streit ist gut, runterschlucken ist schlecht.
Ganz besonders beliebt ist unser Themenstreitwagen. Hier können sich Gruppen streiten. Er ist sehr gut ausgestattet, mit der modernsten Technik können sie sich auch im Internet streiten. Aber Vorsicht ist geboten: sie sollen sich streiten und nicht den anderen diffamieren. Sie werden sehen, dass Streiterei mit mehreren, die das gleiche wollen wie sie, einfach mehr Spaß macht als das ewige mit sich selbst streiten. Nein, organisieren sie sich, tun sie sich zusammen, streiten sie gemeinsam. Wir haben sehr interessante Streitthemen zur Auswahl: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände...“
Ja, genau! Sie werden es nicht glauben, aber es handelt sich tatsächlich um Artikel 25 aus der Erklärung der Menschenrechte. Aber warum soll man sich um so etwas streiten, werden sie sich vielleicht fragen. Ist doch gut. Aber Achtung, hier ist ein kleiner Pferdefuß zu beachten: das Recht auf einen Lebensstandard. Ja, wie sieht dieser Lebensstandard denn aus? Hartz IV oder gar kein Geld vom Staat? Armut ist schließlich gerecht, wie uns das Institut für Neue soziale Marktwirtschaft Glauben machen will. Wenn Armut gerecht ist, ist dann Reichtum auch gerecht? Nein, das ist nicht automatisch der Fall. Also ist Reichtum ungerecht. Sie sehen schon, dass man prima streiten kann. Und das ist auch notwendig, denn sonst sind solche Texte nichts Wert. Sie stehen nur auf dem Papier und werden niemals in Kraft treten. Weil es keinen gibt, der tritt. Das kann man erst, wenn man sich streitet, was unter einem Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände zu verstehen ist. Also halten sie sich nicht zurück. Streiten sie und wenn sie sich kraftlos fühlen, weil sie keine Lust auf Streit haben, dann kaufen sie doch unserer Streitpille. Sie können sie auch im Kombipack mit unserer Willenspille erwerben. Ich empfehle ihnen beide Pillen, denn was nutzt ihnen ihr Wille, wenn sie keine Kraft zum Streiten haben? Hereinspaziert, meine Damen und Herren. Der Eintritt ist kostenlos. Nur heute noch! Nutzen sie diese Gelegenheit.
GOO, April 2013
Helden sind doof
- Geschrieben von: Günter Opitz-Ohlsen
Herberts hat seine Augen geschlossen. Der MP3-Player ist auf volle Lautstärke gestellt. „There is no laughter without tears; No wisdom without years (Oh, oh, oh)…” Erst im Alter kommt die Weisheit. „In a world gone crazy; Torn between the roads; That we must choose; Win or lose; If every soul should lose its way; If every face should lose its name; Tell me who's gonna stop the rain?”.Die zerrissene Welt will betrogen sein. Ändern können das nur Helden wie Herakles. Seine Stärke hatte er von seinem Vater Zeus geerbt. Heute würde man behaupten: Helden haben Heldengene.
Die S-Bahn nähert sich der nächsten Station. Auf der Info-Screen liest Herbert: «TOT! US-Präsident von Heckenschützen ermordet... Sehen Sie die Sondersendung. Lesen Sie die Sonderausgabe. Fakten, Fakten, Fakten finden Sie gleich hier am Zeitungskiosk!!!».
Nur läppische Dinge sind heute nach Göttern benannt - zum Beispiel Rasenmäher. Zeus war scharf auf Alkmene, erschien ihr in der Gestalt ihres Ehemanns. Warum wohl? Sicherlich ein Stoff für Hollywood: Aus dem Leben eines Gestaltwandlers. Das Resultat: Ein Held und eine eifersüchtige Hera, die Herakles mit Wahnsinn straft. Warum nicht ihren Ehemann? Der war es schon! Kein Wunder, dass Herakles seine Frau und seine drei Kinder erschlug. Wozu Männer in der Lage sind, wenn sie mit Wahnsinn belegt sind!
Als Herakles wieder zur Besinnung kam, sah er das Unheil und fühlte sich letztendlich schuldig, der Idiot! Und was macht ein Held in dieser Situation? Er beichtet. Eine beliebte Methode, die auch heute gern von fast allen Gesellschaftsschichten in abgewandelter Form genutzt wird. Die Hölle ist nicht nur auf Erden sondern auch im Himmel. Der Unterschied: Im Himmel kann es keine Helden geben. Da gibt es nur Götter.
In der Antike besuchte man in derartigen Notsituationen das Orakel in Delphi. Das hatte dem Herakles in der allseits bekannten Zeremonie Folgendes auf den Weg gegeben: «Arbeite, du Sünder! Stelle dich in den Dienst von Eurystheus und mach gefälligst, was der dir sagt.» Damals haben die mehr verlangt. Fördern und Fordern nach Orakelart eben. Für den Herakles wäre die Maloche aber keine echte Strafe gewesen, um seine Schuld zu sühnen.
Die Info-Screen der nächsten S-Bahn-Station: «TOT!». Darunter: « Chef der Deutschen Bank in Schweizer Villa erhängt. Neue toxische Derivate im Wert von einer Billionen Euro.»
Wenn man schon so ein Volltrottel wie der Herakles ist und sich aus Mangel an Informationen für etwas schuldig fühlt, das man selbst nicht zu verantworten hat, dann kann das kein gutes Ende nehmen! Genau! Herakles‘ zweite Frau wird letztendlich zur Erfüllerin des Orakelspruchs, denn damals gab's das eigene Schicksal gratis zur Orakelsitzung dazu! Das nenne ich Dienst am Kunden! So wie heute eben, wenn man seine erste Sitzung beim Fallmanager hinter sich gebracht hat und die Eingliederungsvereinbarung unterschreibt: Sie werden letztendlich eine Arbeit bekommen, an der sie allerdings zugrunde gehen werden. Solange müssen Sie sich nachweislich mindestens dreimal am Tag bewerben.
Ich hasse diese Orakelrätsel! Orakel! Orakel! Heimlich und Co.! Helden sind blöd! Dumme Kerle! Herbert wird nach vorne geschleudert. Die S-Bahn macht eine Notbremsung. Der Zug steht. Die Fahrgäste berappeln sich wieder. Sie starren aus dem Fenster. Nichts zu sehen. Dann endlich die Durchsage: Der Zug kann aus technischen Gründen nicht mehr weiter fahren. Wir bitten die Fahrgäste, Ruhe zu bewahren und weitere Durchsagen abzuwarten! Ein Mann hat sich vor die S-Bahn geworfen, damit seine Witwe die Risikolebensversicherung kassieren kann.
© goo, Januar 2009
Grau in meinem Kopf
- Geschrieben von: Günter Opitz-Ohlsen
Das Grau ist da, spontan und für eine Sekunde ein Gefühl, das ich nicht festhalten kann und das unmittelbar Bilder in mich hinein projiziert. Da ist der Geruch des Graus, der mich an den Geruch von Weihnachtsgebäck erinnert, ein Geruch, der das Haus eingenommen hat, wenn meine Mutter zur Tat schritt. Dieser Geruch erfüllt den Raum, den Grauraum sozusagen, in dem ich liege und den ich nicht verstehe. Da ist der Geschmack des Graus, den ich im Mund habe und der mir den Rotkohl mit Klößen vorgaukelt, als hätte ich gerade gegessen. Aber das Grau lässt mich allein mit mir, so wie damals, als ich Mondlandung gespielt habe, eine Gegensprechanlage war die einzige Verbindung zur Erde. Der Graugeschmack und der Graugeruch sind auch in dieser Öde vorhanden. Nein, die Öde ist es, in der ich stehe, die eine Grauwand zwischen mir und der Welt errichtet hat. So wie ich im Bett liege und die Straßenbahn draußen vorbeifahren höre, leer, keine Fahrgäste mehr, leer, kein Mensch mehr auf der Straße, leer alle in ihren Betten, eingekuschelt, schlafend oder allein auf der Autobahn, in der dunklen Nacht eben, nur der Lichtkegel des Scheinwerfers, der in die Nacht etwas Helles wirft, das nur einen Asphalt widerspiegelt und leer eben, so ist das Grau zwischen mir und der Welt, so ist das Grau, das in meinem Kopf, das ein Gefühl aufkommen lässt, für ein paar Sekunden eben, das ich nicht beschreiben kann, nein, es ist anders, es ist nicht diese Fahrt auf der Autobahn in der Dunkelheit, nein, es ist die Fahrt durch die Cevennen in der Dunkelheit, mit den engen Straßen und den vielen Kurven, die die Aufmerksamkeit auf den Lichtkegel lenkt, der den Weg für ein paar Meter anzeigen kann, gerade ausreichend, um bei der Geschwindigkeit nicht aus der nächsten Kurve herausgetragen zu werden. Nein, es ist noch mehr. Es ist die Frau, die neben mir schläft und die Kinder auf dem Rücksitz, die schon lange eingeschlafen sind und durch die Fliehkraft bewegt werden, durch sonst nichts. Ja, das ist dieses Grau, das mich in einen Mittelpunkt stellt, den ich auszufüllen habe, die Aufgabe, der Schutz, das ist das Grau auch und nicht nur die Hauswandecke, die menschenleer den Blick auf einen Balkon freigibt. Ja, ich glaube, nein, ich bin geradezu davon überzeugt, dass das Grau in meinem Kopf ist, dass es meinen Kopf ausfüllt, wenn ich da liege und dieses Gefühl eben nicht festhalten kann.
Das Grau meint es vielleicht gut mit mir. Es begleitet mich durch den Tag. Es gibt mir eine breite Straße zu erkennen, die links und rechts und an der Kopfseite mit Häuserwänden zugestellt ist, als wäre das Ganze nur ein Zimmer in einer größeren Wohnung. Das Grau sitzt mit mir am Frühstückstisch und bricht mit mir das Brot und trinkt mit mir den schwarzen Kaffee. Es begleitet mich auf meinen Spaziergängen durch den Novemberwald und auch zum Lebensmittelgeschäft gegenüber. Dort legt es sich auf die Regale, die prall gefüllt sind mit Schokolade, Kuchen, Marmelade, Käse, Wurst, und es friert in den Tiefkühltruhen, die vor Fisch und Fleisch überzulaufen scheinen. Sobald ich an der Kasse stehe und bezahlen möchte, macht das Grau sogar Scherze und legt sich auf die Reiseangebote, die auf Plakaten stehen. Das Grau macht sich lustig darüber, weil es sich ganz sicher ist, dass man es so nicht loswird und ich zahle schnell und laufe über die Straße, wohin, ich weiß es nicht, weil das Grau sich vor mich gestellt hat und mir den Zugang zum Haus verwehrt.
Die Hoffnung, doch noch einmal Fuß zu fassen, ist nicht verschwunden. Jedes Angebot wird geprüft und es wird gehofft, dass es wahr werde. Aber das Grau füllt die Zeit mit seinen Bildern. Es sind die Bilder der Vergangenheit und der Gegenwart, die jetzt die Zukunft zuschütten. Da ist das Grau in meinem Kopf zu Hause. Es will nicht dort hin. Nein, es kommt von dort. Es sagt zu mir: Du brauchst mir nicht zu folgen, denn das ist deine Zukunft. Es sagt zu mir: Du kannst nichts dagegen tun, denn das ist deine Zukunft. Die kannst du nicht ändern, es sei denn, du schließt einen Vertrag mit mir. Ich bekomme dich so oder so, aber ich kann dich für eine Zeit loslassen. Dann bin ich nicht mehr bei dir in deinem Kopf. Das sagt es zu mir.
In letzter Zeit bin ich Nachmittags immer in einem Café. Es liegt nicht weit weg von meinem Haus und hat erst kürzlich eröffnet. Es hat graue Wände, die durch Bilder in allen möglichen Grautönen geschmückt sind. Die Tische sind grau und die Kaffeetassen ebenfalls. Die Menschen sitzen an den grauen Tischen allein in ihren grauen Anzügen oder Kostümen. Kinder spielen in der Spielecke mit grauem Spielzeug. Der Kellner trägt ein graues Hemd und spricht grau zu den Gästen. Hier will ich herausfinden, was dieses Grau in meinem Kopf ist. Ich kann es nicht benennen und auch nicht beschreiben, wie es ist. Ich kann nur sagen, dass es ist. Ich will es wissen. Endlich Heureka! ausrufen. Deshalb gehe ich jetzt immer regelmäßig in das Bistro le Cafard. Aber ich frage mich, ob das überhaupt einen Sinn macht. Dann soll es eben bei mir bleiben, dann brauche ich ihm nichts zu verkaufen. Dann bin ich nicht abhängig von diesem blöden Grau. Bleib in meinem Kopf. Du bist alles, was ich habe, heuchle ich und lebe mit ihm. Es lässt sich ertragen. Angst vor ihm habe ich nicht. Ich glaube, es gehört zu mir. Manchmal ist es stärker oder überfällt mich in den unmöglichsten Situationen. Dann denke ich nur: ach, da bist du ja wieder. Aber jetzt ist es auch genug, jetzt kannst du gehen. Ich werde dich nicht vergessen, du brauchst dich nicht immer in Erinnerung zu rufen.
Aber so leicht lässt sich das Grau nicht verbannen. Unter den Teppich Gekehrtes tritt plötzlich hervor und der Staubsauger kann es nicht richten, zu viel Dreck hat sich im Laufe der Zeit dort versteckt, wo man ihn nicht sieht oder nicht sehen will. Aus den Augen in das Grau und dann aus dem Grau in die Augen. Da ist es nicht leicht, ruhig und gefasst zu bleiben. Das Grau wühlt auf, es macht mich so wie ich nicht bin und wie ich nicht sein will und anschließend zieht es sich in eine Ecke zurück, in der ich mich wohlfühle, weil ich nicht genau erkennen kann, was in den anderen Ecken ist, weil ich nicht verstehen kann, warum ich so zufrieden bin, weil ich es nicht erfassen kann, dieses Grau, was sich immer wieder meldet in allen möglichen Situationen unverhofft, ja, das kommt oft so wie dieses Grau.
© GOO, November 2013
Good bye Jean Paul
- Geschrieben von: Günter Opitz-Ohlsen
Beide Arme Jean Pauls lagen auf dem Küchentisch. Er saß Herbert direkt gegenüber. Zuerst floss der rote Saft langsam, als wollte die Kälte alles zu Eis erstarren. Aber nur ein Kälteschlaf konnte Herbert jetzt noch retten. „Wake me up when September ends“ dröhnte es in den Kopfhörern seines MP3-Players und Herbert stellte sich vor, wie er sich Kopf über durch seinen weit geöffneten Mund in sich hineinstürzte und endlich die lang ersehnte Reise in sein Inneres antrat. Die Fahrkarte kostete ihn keinen Cent.
Jean Paul verzog keine Miene und würdigte Herbert keines Blickes. Selbst sein Geweih war nicht wie früher: „the innocent can never last“. Früher sprühte sein Gegenüber vor Witz und Humor: „As my memory rest, I never forget what I lost“ und Herbert hatte das Gefühl, im Kaffeesatz zu lesen. Er sah sich dabei zu, wie er an der Biegung des von Erlen gesäumten Baches seiner Kindheit von einer Katastrophe in die andere trieb. Aber wenn das Haben gleich dem Sein ist, dann musste er auf der Strecke bleiben, dann ist sein Flugzeug für immer ausgebucht und der einzige verbleibende Aufenthaltsort ist der Keller, die Tür abgeschlossen, der Schlüssel weggeworfen.
„Mein lieber Jean Paul“ fing Herbert seinen Brief adressiert an sein Gegenüber an. „Wir sind schon so lange zusammen. Ich bin tief enttäuscht, dir diese erbärmlichen Verhältnisse bieten zu müssen, die du ganz bestimmt nicht verdienst hast. „Here comes the rain again, falling from the stars, drenched in my pain again, becoming who we are“.
Du bist ein unschuldiges Wesen, das mir zufällig über den Weg gelaufen ist. Ich fand es nur lustig mit einem übergroßen Elch als Stofftier, der auf dem Beifahrersitz immer einen der besten Plätze im Auto fand, durch die Lande zu fahren. Wie schön war damals dein Geweih und wie fröhlich und lustig warst du mit deiner großen Schnauze.
Wir sind beide durch dick und dünn gegangen und haben uns niemals gegenseitige Vorwürfe gemacht, wenn einmal etwas nicht so gelaufen ist, wie wir es erwarteten. Im Gegenteil für uns beide gab es immer eine weitere Chance. Doch was ist uns heute geblieben?
Wir wohnen auf dem Trümmergrundstück hinterm Bahndamm. Dort hält schon längst kein Zug mehr. An Wegkommen ist gar nicht zu denken. Stück für Stück hat man uns immer mehr abgenommen. Anfangs in kleinen danach in immer größer werdenden Portionen. Letztendlich haben sie uns mit dieser bewährten Salamitaktik die Würze unseres Lebens geklaut. Kontrolliert und beobachtet, klein gehalten, ausgelacht und denunziert haben sie uns zurück gelassen. Was können wir noch tun, außer in diesen Kälteschlaf zu versinken, um - vielleicht wie im Lied - nach sieben Jahren wieder in der Hoffnung aufzuwachen, eine bessere Welt vorzufinden. Vergib mir! Ich bin am Ende. „wake me up when September ends“ Dein Herbert.“
Herbert legte den Stift beiseite und schloss die Augen. Seine Geschichte war verblutet. Er dachte an den süßlichen Geruch kurz vor dem Tod, der das Sterbezimmer ausfüllt. Vielleicht war es die Seele, die sich in das geistige Reich verflüchtigt, um dem Tod Platz zu machen? Aber was blieb als Bodensatz übrig? War es die Schuld, wie in dem Film Flatliners? Aber dann hatte er keine Chance mehr, sich zu entschuldigen. Gibt es dieses verdammte jüngste Gericht etwa doch? Was ist dann diese beschissene menschliche Existenz Wert? Nur der Spielstein eines Spiels, der sich selbst nicht mehr bewegen kann, aber glaubt, unsterblich zu sein. Und so versank er in den Kälteschlaf, den er sich so sehnlichst gewünscht hatte, mit all seinen Zweifeln, die ihn zur Verzweiflung trieben. Sein MP3-Player gab irgendwann einmal den Geist auf. Es war niemand da, der ihn ans Ladegerät hätte anschließen können.
Der Gestank in der Wohnung fiel einem Nachbarn auf, als er eines Tages an Herberts Wohnungstür vorbei kam. Er rief sofort die Polizei. Die brach die Wohnung auf und meldete den Vorgang dem Vermieter. Die Polizei fand noch eine handschriftliche Mitteilung auf dem Küchentisch mit folgendem Inhalt: „An die Familie ... Sind wir denn nicht in einem ewigen Gewaltzustand? Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, dass wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und einem Knebel im Munde. Ein Gesetz, das die große Masse der Staatsbürger zum fronenden Vieh macht, um die unnatürlichen Bedürfnisse einer unbedeutenden und verdorbenen Minderzahl zu befriedigen...1“. Das andere wurde behördlich geregelt. Was mit dem Stofftier geschah, ist nicht bekannt.
© goo, März 2009
1Brief Georg Büchners an die Familie, Straßburg 5. April 1833 in Georg Büchner, Ludwig Weidig; Der Hessische Landbote; Texte, Briefe, Prozessakten kommentiert von Hans Magnus Enzensberger, Insel Verlag 1965
Gautama
- Geschrieben von: Günter Opitz-Ohlsen
Nach buddhistischer Lehre führen Hass und Gier zur Verblendung, trennen das Individuum vom Sein in eine Objektivität, in die es sich nicht mehr integrieren kann. Dieser Gedanke ist fast 2500 Jahre alt. Inzwischen ist die menschliche Gattung immerhin soweit fortgeschritten, dass sie mit dem größten Teleskop von der Erde aus bis an die Grenze des Universums schauen kann, also in eine Vergangenheit, die vor ca. 13,7 Milliarden Jahren stattgefunden hat. Ob die Menschheit damit die Frage nach ihrer Daseinsberechtigung innerhalb eines Evolutionsprozesses beantworten kann, steht nicht auf der Tagesordnung. Darüber hinaus wird sich jeder der Lächerlichkeit aussetzen, der nur ansatzweise darüber nachdenkt. Hier geht es eher um eine Beschäftigungstherapie, bei der sich die Fragenden erst einmal in einer Reihe aufstellen müssen und nur noch hoffen können, dass sie das Inferno nicht trifft, das jegliche genetische Anpassungsmöglichkeit wegen fehlender zeitlicher Spielräume zunichtemachen würde.
Freiheit, ein Albtraum
- Geschrieben von: Günter Opitz-Ohlsen
Jetzt muss ich nur noch den Wasserhahn aufdrehen und dann kann es losgehen. Das köstliche Nass wird meinen Körper, der zugegeben etwas besser aussehen könnte, benetzen, die Tropfen werden an meiner Haut abperlen wie der Morgentau auf den Blättern einer Orchidee. Hust, Stotter, Furz und danach Friedhofsstille, wie immer man das auch nennen mag, das Wasser läuft nicht mehr, ist abgestellt oder abgesperrt, Scheißedreck.
Nun gut, dann muss ich eben auf meine Körperpflege erst einmal verzichten. Macht nichts. Das Wasser wird bald wieder kommen. Jetzt brauche ich aber meinen starken Kaffee. Ich ziehe mich an, um schnell zum Discounter um die Ecke zu laufen, Wasser holen. Komme mir vor wie in meinen Kindheitstagen. Ich bin bei meiner Tante aufgewachsen, die keinen Wasseranschluss hatte, dafür aber einen Brunnen mitten in der Waschküche. Morgens habe immer das eiskalte Wasser eimerweise geholt. Es wurde zum Trinken, Essen machen und zur Körperpflege genutzt. Jede Woche einmal ein Wannenbad für die ganze Familie: Zuerst Onkel Sepp, dann die Tante Gretel und zum Schluss ich. Leider gibt es in meiner Wohnung keinen Brunnen.
Beim Discounter herrscht Hochbetrieb. Ich sause an den Regalreihen entlang und bemerke nur, dass die Tiefkühltruhen abgeschaltet sind. Dann komme ich in die Getränkeabteilung. Aber alles leer. Warum? Die Menschen, die vor mir da waren, haben alles gekauft. Wasser ausverkauft, das hat es bis jetzt in meinem Leben noch nicht gegeben.
Aber Kaffee kann man schließlich auch in Bäckereien bekommen. Also stelle ich mich an die Straßenbahnhaltestelle und warte und warte und warte. Inzwischen hätten mindesten zwei Straßenbahnen kommen müssen. Dann eben nicht. Alte Gewohnheiten sind dazu da, über Bord geworfen zu werden. Ich nehme den Bus, der mich zuverlässig zum Einkaufszentrum in das Stadtzentrum bringt. In der Nähe sind allein drei Bäckereien, die ich kenne und die auch Kaffee verkaufen. Frischen Kaffee Creme, so lecker! Außer Betrieb ist ein Wort, das ich schon gar nicht mehr gehört habe. Aber jetzt wird mir klar, was es bedeuten kann. Die Kaffeemaschine geht nicht. Kein Wasser kein Strom, komme schon. Damit haben früher Handwerker geworben, die so ziemlich alles im Haus reparieren konnten. Aber langsam dämmert es mir, dass es sich hier um ein grundlegendes Problem handelt. Ich prüfe mein Handy, das über Akku läuft. Musik kann ich hören, anrufen kann ich nicht, weil kein Netz zur verfügbar steht. Was, wenn der Strom komplett weg wäre, so wie damals in New York?
Die Menschen um mich herum scheinen ziellos herumzulaufen. Irgendwie sehe ich in Panikgesichter, aber Einige haben sich einfach in eine Ecke gesetzt und harren der Dinge. Langsam öffnet sich mir die Welt meiner Mitmenschen. Sie besteht hauptsächlich aus Fluchen, die in die Luft abgelassen werden, weil die Wut sonst keinen Angriffspunkt findet. Einige reagieren so gereizt, dass man schon befürchten muss, sich aus einem nichtigen Grund Eine zu fangen. Nur die Kinder stört das nicht. Sie laufen wie wild umher und spielen Fangen. Der Strom ist komplett weg und das Wasser auch. Abgestellt oder ausgefallen oder... Ich setze mich ebenfalls in eine Ecke des Einkaufszentrums. Neben mir sitzt ein gut gekleideter Mann um die Fünfzig, der mit seinen Fingern spielt. Das Handy kann auch er nicht benutzen. Wir sind abgeschnitten, wird mir plötzlich klar, abgeschnitten von der Zivilisation, die ihr Schloss auf Wasser und Strom gebaut hat. Wie wird das erst sein, wenn wir kein Öl mehr haben. Die Ölquellen werden immer weniger und immer unzugänglicher, sodass das schwarze Gold bald wirklich Goldpreise erreichen kann.
Immer wieder ziehen an uns verwirrte Menschen vorbei. Sie blicken mir starr in meine Augen, um mich zu fixieren und mir den Weltuntergang mitzuteilen. Aber dann würden wir doch nicht mehr leben, antworte ich. Morgen ist alles vorbei, lautet die hellseherische These, die mir an den Kopf geworfen wird, als wäre alles das normalste auf der Welt.
Der Vortrag vom Vorabend, der mir heute noch ein Gefühl des verstärkten Glücks gab hat sich nun ins Gegenteil verkehrt. Ja, auch die Freiheit eines Einzelnen hängt von den materiellen Gegebenheiten ab, das habe ich jetzt geschluckt. In meiner Situation besteht halt meine Freiheit darin, meine Gedanken auf das Überleben zu fokussieren. Und das ist auch, was von meiner Bewegungsfreiheit übrig geblieben ist. Dass die äußeren Umstände so stark mein Leben bestimmen, hätte ich Gestern noch nicht gedacht. Der gut Gekleidete neben mir hebt seinen Kopf und schaut mir in die Augen. Ich glaube, er denkt dasgleiche wie ich. Aber er hat keine Hoffnung mehr, sich in dieser zivilisierten Situation zurechtzufinden. Zuerst werden die Menschen sich in ihren Unterkünften verkriechen, denn mehr ist nicht mehr übrig geblieben von dem, was man einmal Wohnung nannte. Dann werden sie ihre Vorräte verbrauchen, die sie sich noch beim Discounter sichern konnten. Danach werden sie sich beim Nachbarn bedienen, der noch Vorräte hat und zum Schluss werden sie das Weite suchen. Wenn nur die Stadt keinen Strom hat, dann kann man auf dem Land prima überleben.
Viele Menschen machen sich irre damit, herauszufinden warum alles so gekommen ist. Ich bin da zum Glück anders. Ich denke nur, einen Grund wird es schon haben und es wird die Zeit kommen, dass andere diesen Grund auch erfahren werden. Aber dazu ist die Infrastruktur leider nicht mehr vorhanden, dass ich ihn jetzt wissen könnte. Also was bleibt mir in einer solchen Situation übrig? Nach einem Grund zu fragen, den ich nie erfahren werde, jedenfalls zwischenzeitlich, solange die Situation noch anhält. Ich muss mich damit abfinden, dass ich keine Antworten bekomme. Außerdem würde ein Mensch niemals danach fragen, der immer ohne Strom- und Wasseranschluss gelebt hat.
Der Mann neben mir ist eingeschlafen. Vielleicht ist Morgen alles vorbei! Aber wenn nicht, dann muss ich handeln. Ich habe Durst. Nicht weit vom Einkaufszentrum ist ein Park und dort stehen auch ein paar Obstbäume. Ich rappel mich auf und verlasse das inzwischen menschenleere Einkaufszentrum. Auf dem Weg zum Park begegne ich keinem Menschen. Die Obstbäume stehen noch da. Ein Glück, dass es August ist, sonst hätte ich mir diesen Weg auch sparen können. Da steht der Gegenstand meiner Begierde: ein riesiger Pflaumenbaum. Die Pflaumen liegen auf dem Boden und ich sammle sie auf. An einer Kinderschaukel lasse ich mich nieder und beiße genüsslich in das himmlische Blau. Der Saft, die Säure, die Süße und schon geht es mir besser. Ich muss die Stadt verlassen. Auf dem Land werde ich Wasser und Nahrung finden. Hier in der wasser- und stromlosen Stadt ist ein Überleben schwieriger. Wie lange wird es noch Nahrungsmittel geben? Zur Herstellung benötigt man Wasser. Wie lange werden noch die Busse fahren? Jetzt ist der Zeitpunkt noch günstig, sich aus dem Staub zu machen. Jetzt habe ich noch eine Chance, das Ganze zu überleben.
Warum gehst du nicht ans Telefon, höre ich eine Stimme, die aus den Pflaumen kommt. Es ist meine Freundin. Was macht die hier? Sie sieht mich besorgt an und ich nehme wahr, dass ich in meinem Bett liege. Ich muss verschlafen haben, gebe ich ihr zu verstehen. Ich habe frischen Kaffee gemacht, flüstert sie mir ins Ohr und ich lächle, meine Lebensgeister kommen wieder, war alles nur ein Albtraum, gebe ich ihr zu verstehen. Sollen wir zusammen Duschen, lautet meine Frage, die sie damit beantwortet, dass sie sich auszieht.
© GOO, April 2013