Geschrieben von: Birgit Ohlsen

Manchmal, wenn ich von meinem Schreibtisch aus zum Fenster hinaus schaue, sehe ich auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes einen Mann spazieren gehen.  Er hält einen Stock in der Hand und trägt einen Hut auf dem Kopf. Zur rechten, äußeren Seite beginnt er seinen Weg, um dann zügig zum linken Giebel voranzuschreiten, wo er sich hinter dem Kamin zu schaffen macht. Nie habe ich ihn den Weg zurückkehren sehen.
Heute aber  bin ich auf der Hut gewesen,  habe den Wecker gleich neben meinen Arbeitsplatz gestellt und mich bemüht, das Dach im Auge zu behalten.

Ich könnte  also einen Eid darauf schwören, dass der Spaziergänger an diesem  Vormittag den Weg sehr wohl hin, aber keineswegs  zurückgegangen ist.

Als es gegen Mittag Zeit  für einen kleinen Imbiss geworden war, verließ ich kurz meinen Platz.  Dennoch hielt ich stets  meinen Blick auf den linken Giebel des Nachbarhauses gerichtet. Ich war nicht einmal erstaunt, als dort nach wenigen Minuten schon an Stelle des Erwarteten eine Krähe stand. Sie sah sich nicht um, tippelte zügig in die gegenüberliegende Richtung, um dort ein wenig zu verweilen.  Dann breitete sie ohne besonderes Aufhebens ihre Flügel aus, wie das so Krähenart ist,  wandte den Kopf  je einmal zur Rechten, dann zur Linken, flatterte ein wenig – und hob sich schließlich in die Lüfte.
Am nächsten Morgen war ich schon früh auf der Hut.  Neben meinen Schreibtisch hatte ich einen Schemel gestellt, auf  dem etwas zum Essen und zum Trinken stand, und auch den Wecker hatte ich nicht vergessen. Also war ich gut versorgt für die Zeit des Beobachtens. Ein kleiner Feldstecher sollte mir dabei behilflich sein, jedes neu eintretende Ereignis auf dem Nachbardach zu erfassen.
Kaum eine halbe Stunde hatte ich  warten müssen, da wiederholte sich das Spiel vom Vortag. Allerdings geschah es diesmal, dass es nun  die Krähe war, die zügig vom rechten Giebel zum linken voran tippelte und dort aus meinem Sichtfeld verschwand.
Gegen zwei Uhr am Mittag wurde meine Geduld schließlich belohnt: Der Mann betrat, und dies war das Besondere an diesem Tag, das Dach vom linken Giebel her.  Diesmal allerdings trug er nur den Hut auf dem Kopf und keinen Stock in der Hand – all dies vermerkte ich später in meinem diesbezüglichen Protokoll. Es dauerte diesmal exakt zwei Minuten länger als am Vortag, bis er sein Ziel erreicht hatte. Das rührte wohl daher, dass er sich, nachdem er knapp zwei Drittel des Wegs zurückgelegt hatte, vorsichtig umsah. Einmal nach rechts und einmal nach links.  Dann setzte er hastig seinen Weg fort, als sei er an eine exakte Zeitvorgabe gebunden, erreichte den rechten Giebel binnen kürzester Zeit, da er die letzten paar Schritte beschleunigt hatte.
Fast hätte ich einen Schlussstrich unter meine täglichen Aufzeichnungen gezogen, da bot sich mir ein unerwartetes Schauspiel: Am Ziel angekommen, ruderte der Mann unversehens unruhig   mit den Armen in der Luft, als drohte er zu straucheln. Schnell aber hatte er sich wieder gefangen. Er brachte seine seitwärts ausgestreckten Arme ins Gleichgewicht, flatterte ein wenig auf der Stelle, wandte den Kopf  einmal zur Rechten, einmal zur Linken, sah nicht unter sich  – und hob sich schließlich in die Lüfte.

© BIO, 2005