Der Strom der Autos reißt nie ab. Früh um sechs Uhr fängt alles an, dann stehen die Fahrzeuge in langer Schlange bis zum Balkon seiner Wohnung, den er in den Sommermonaten dazu benutzt, um in die Gesichter der Gestressten zu sehen, die ihn wiederum keines Blickes würdigen. Gegen zehn Uhr wird es ruhiger. H. verlässt seine Aussichtsplattform, um sich in die Stadt zu begeben. Denn auch er hat Bedürfnisse, die er nicht so ohne weiteres aus sich selbst heraus befriedigen kann.

Das Glück muss er sich erst verdienen, so hat er es in seiner Kindheit gelernt. Einfach glücklich zu sein ohne dafür eine Gegenleistung zu erbringen, das war gemäß dem religiösen Geschäftsmodell seiner Zeit eine schwere Sünde und bedurfte der Bestrafung. Er vergleicht die Arbeitstiere dieser Zeit, die sich in immer schlechteren Arbeitsbedingungen wiederfinden, um danach voller Stolz darüber zu erzählen, mit diesen religiösen Opfern seiner Kindheit. Dabei kann er es sich auch sehr gut vorstellen, warum sie über ihre Löhne stolz berichten, von denen sie nicht leben können. Arbeit adelt – Im Volksglauben zumindest - und Faulenzerei gilt als eine der sieben Todsünden, die das Menschenkind gemäß seiner christlichen Erziehung (oder: Indoktrination) gemeinsam mit den anderen zu bekämpfen angehalten ist.

Es bedarf einer gewissen Ignoranz, um sich über diese Verhältnisse nicht aufzuregen. Für H. bedeutet dies, das Kunststück fertigzubringen, das Adorno wie folgt umschrieb: Man solle sich durch die Mächtigen und durch die eigene Ohnmacht nicht dumm machen lassen. Denn: Wer sich aufregt und dies auch noch in der Öffentlichkeit tut, wird als Jammerlappen oder Neider beschimpft. H. hat sich deshalb schon oft gefragt, ob nicht das Sterben leichter sei als das Leben, das ihn manchmal zu Tode erschreckt. Sicherlich wäre diese Überlegung auch eine Motivation für das erfolgreiche Geschäftsmodell eines Bestatters, von denen es genug in dieser Gegend gibt.

Nun steht er an der Straßenbahnhaltestelle. Zwei junge Leute sitzen auf der Bank im Wartehäuschen. Der Kleinere von beiden trägt eine Jacke der Marke DIESEL, die aber ganz augenscheinlich von einem Billighersteller in Fernost angefertigt wurde. Eben diesen Raubkopierern wird in aufwändigen Werbespots mit Sanktionen gedroht. Diese vielerorts anzutreffende Werbung hat mit Sicherheit wiederum gewissen Werbefirmen zu einem erträglichem Profit verholfen. So hängt alles mit allem zusammen, denkt H., unterm Strich kommt Null heraus. Vielleicht wird der Kopist in Fernost irgendwann einmal Jacken mit einem permanenten Faltenwurf anbieten, so dass man die beiden Anfangsbuchstaben der hier zur Schau gestellten Marke tatsächlich nicht erkennen kann, denn das ist es, was er in diesem Moment wahrnimmt.

Es gibt unausgesprochene Voraussetzungen, die den Sätzen ihre Wahrheit verleihen oder sie ihrer Wahrheit berauben, sinniert er weiter und starrt dabei in das Gesicht einer jungen Frau, sobald er sich in der Straßenbahn wiederfindet. „No more I love you's; the language is leaving me; ahah; dubidubidubdabdaahaa“ und er nimmt die Menschen in der Tram verzerrt wahr, ihre geometrischen Ausmaße nehmen äußerst merkwürdige Formen an. Die einen wirken größer, als sie in Wirklichkeit sind und wirken damit schlanker, genau so, wie es in manchen Spiegeln zu sehen ist, die findige Geschäftsleute aufstellen, um dem Kunden anstelle der unbarmherzigen Wirklichkeit seine Idealfigur, die ihn besser aussehen lässt in den Klamotten, die er jetzt schon wie im Kaufrausch haben muss, vorzugaukeln. Sobald dieser Kaufrausch erst einmal geweckt ist, lässt er oder sie sich auf das Experiment ein, etwas zu kaufen, wofür er oder sie nicht die geringste Verwendung hat. Zu Hause angekommen, wird die Enttäuschung dann mit Sicherheit groß sein, sobald er oder sie seine oder ihre tatsächlichen Ausmaße in der teuren Verpackung zu Gesicht bekommt.

Andere Menschen in der Tram wiederum wirken in horizontaler Richtung verzerrt, kein Geschäftsmodell also für den Einzelhändler. Würde H. solche Spiegel aufstellen, wäre seine Kundschaft eine noch zu erkundende Größe, die er kaum jemals zu Augen bekäme. „Raum-Zeit-Verzerrung“ bringt sein Bewusstsein als einen Gedanken hervor, den er nicht so ohne weiteres von der Hand weisen kann, weil das Gesicht der Blonden mit den Zöpfen von der Gravitationswelle gerade aufgeblasen wird: „changes are shifting outside the word“ hämmerte es im ruhigen Beat in seinem Kopf, gefolgt von einem etwas wilden „dubidubidubdabdaahaa“.

Da geschieht es endlich: „but now, I used to be lunatic“ - der Luftballon sprengt die Decke der Straßenbahn ab, „hahahahaha“. Jetzt sind alle im offenen Cabriolet unterwegs, die Luft ist erfrischend und die Fahrt geht weiter, „dubidubidubdabdaahaa“. Nur jetzt nicht anhalten, immer weiter fahren, denkt er, die Dämonen im Kopf sind nur Einbildung. Er bleibt ruhig sitzen, wiederholte den Lennox-Song „the language is leaving me“ mehrmals und steigerte ihn wie im Bolero, um wieder in das Gesicht der Blonden zu sehen. „AhaaOooohUhh“, die sieht abwehrend zu ihm, „ahaa“, der soll wo anders hin sehen, gibt sie ihm mit ihrem Blick zu verstehen, „dubidubidubdabdaahaa“ und er versteht gar nichts mehr, schaut direkt auf den Boden, will nicht erkannt werden, „the language is leaving me in silence, hahahahaha“. Zeit zum Umsteigen. Er verlässt Schneewittchen, die ihren Kopf an die Scheibe gelehnt hat und längst schläft - „fandango one of sixteen vestal virgins“ - und stürzt aus der sich öffnenden Tür.

Fast rennt er dabei den Finanzsenator um, der gerade dem Lokalsender seine Insider-Kenntnisse über die Hartz IV Empfänger weitergibt. „I don't wanna wait in vain for your love“, neben ihm steht die Kanzlerin, umhüllt von einer riesigen Seifenblase, die jeden Moment zu platzen oder sich gleich mit ihr, vom Wind getrieben, in die Lüfte zu erheben droht . Redet sie nicht dem System nach dem Mund und nicht dem Volke das Wort?. „Tears in my eyes burn“ - also warum nicht direkt das mechanistische Weltbild in die Tat umgesetzt und die Politiker durch Maschinen substituieren, geht es durch seinen Kopf. Die Künast thront auf einem Haufen Bioland-Zuckerrüben und hält ein Schild in den Händen, auf dem geschrieben steht: „Elektroautos für alle“. Hinter ihr reckt sich Monsignore Bernotat, der die Kilowattstunde zum Preis einer Currywurst verkaufen will und dabei ein Kreuz aus Elektroblitzen in die Luft hält. Neue Allianzen werden sichtbar in einer gut inszenierten Katastrophe. Ein Akkordeonspieler, der sich an der Haltestestelle Schönhauser Allee neben einen Pfeiler der U-Bahn aufgebaut hat, fordert: „Gebt dem Volke, was dem Volke ist“ und spuckt der Kanzlerin in weitem Bogen vor die Füße. Im selben Moment durchquert ein CASTOR-Transport das Szenario und macht dabei einen Höllenlärm, der alles zu übertönen. droht „Don't treat me like a puppet on a string“ verdammt, jetzt ist H. in die Hundescheiße getreten, „don't talk to me as if you think I'm dumb“ und zwei Bodyguards entfernen den fluchenden Quetschenspieler im Würgegriff.

Wenn so Vieles, wie zum Beispiel einfache Ideologien oder Wahrheiten, die keiner mehr wissen will, den sagenhaften Bach runtergeht, warum dann nicht auch ganze Systeme, die niemand braucht, denkt H.. Er erkennt am Horizont die brennenden Schlösser und hört die überlauten Sirenen der Feuerwehr, die an diesem Tage augenscheinlich noch viel zu tun haben wird. „In my life I know there is a lot of grief but your love is my relief“. Der rot züngelnde Horizont erscheint ihm wie eine neue Sonne, die gerade erst in den Tiefen des Universums das Licht der Welt erblickt hat und die Menschheit in ihrer Höhle mit ihrem wärmenden Licht beglücken will. „Changes are shifting outside the word“ - (und) danach ist Ruhe in seinem Kopf.

© Günter Opitz-Ohlsen, November 2008

 

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