Es ist kalt. Die Luft ist feucht, der Himmel ist grau. Und wenn sich einmal ein Lichtstrahl in diese Gegend verirrt, dann vergoldet er den Herbstwald für kurze Zeit: Das Rot leuchtet weit und der leichte Wind lässt die Blätter zu Boden tanzen. Ein Spiel mit Farben und Formen, ein Spiel, das alles gibt, bis es dunkel wird im Land, bis der Schnee die Landschaft einhüllt, zudeckt für den langen Winterschlaf. Das Baumhaus steht immer noch.

Wie lang ist es her? 40 Jahre müssen es bestimmt sein. Das Dorf hat sich wenig geändert. Die Felder sind abgeerntet. Sie liegen brach. Im Märzen der Bauer sein Rösslein anspannt. Was wird gepflanzt? Weizen und Roggen für das täglich Brot oder Mais für unser täglich Benzin, das du uns heute gibst, damit wir aus unserm Dorf in alle Himmelsrichtungen entschwinden können. Doch, der Glanz der alten Tage ist vorbei. Den Bauer im Dorf gibt es nicht mehr, die Hotels, früher beliebter Urlaubsaufenthalt, sind heute Seniorenresidenzen. Das Dorf liegt im Dornröschenschlaf und kein Prinz ist in Sicht, der es wieder zum Leben erwecken könnte.

Selbst die Dorfschenke hat jetzt noch geschlossen. Als er noch jung war, war sie schon morgens geöffnet, beherbergte Skatspieler einer Generation, die den Krieg noch aktiv mitgemacht hatte und ihn noch so in der Erinnerung lebendig hielt, als würde die Achtung einer Person von den alten Geschichten abhängen. Ein Gedenkstein erinnert an die Gefallenen für Kaiser und König, für den Diktator, der immerhin Autobahnen gebaut hat, und jetzt sogar für die Demokratie, die überall auf der Welt erkämpft werden muss oder, besser gesagt, mit Blut bezahlt wird. Mittags ging es dann schon hoch her im Dorfkrug. Die alten Lieder wurden gesungen, als könnte man sich die Traumatisierung weggröhlen. So war das damals.

Der Dorfplatz ist immer noch der alte Platz, auf dem er steht. Hier sind noch die hohen Buchen und die Birken zu sehen, die er auch aus seiner Kindheit kannte. Gibt es eigentlich Orte, die der Veränderung trotzen? Das Haus, die alte Schule, gibt es noch, aber eine Schule ist es längst nicht mehr. Die Kinder im Dorf müssen in die nächste Kreisstadt fahren, um fürs Leben zu lernen, oder vielleicht doch nur für die Schule? Viele werden es nicht sein. Zu jener Zeit gab es für alle Kinder im Dorf auch nur einen Raum. Da waren acht Klassen untergebracht und er konnte im ersten Schuljahr den Stoff der zweiten, dritten oder vierten Klasse mithören. Er ist sich heute sicher, dass er nie mehr so viel gelernt hat wie damals im ersten Schuljahr.

Den alten Eingang gibt es immer noch und das Vordach auch. In der Erinnerung erscheint alles viel größer, er war schließlich kleiner. Wie lächerlich kommen ihm nun die Ausmaße des Hauses, des Hofes und des Vordachs vor. Als hätte eine Fee alles verkleinert, damit er mehr in den Blick bekommt, vielleicht auch das Ganze erkennen kann, das sich hinter jedem Ensemble versteckt.

Sieben war er damals nicht, denn mit sieben ist er in die Schule gekommen. Also muss er sechs gewesen sein, als er den Bastelbogen im Lebensmittelgeschäft sah, ein Flugzeug aus Balsaholz, das musste er haben. Er sparte etwas von seinem Taschengeld, bis er den Preis bezahlen konnte. Er war sehr froh und das Flugzeug war im Nu zusammengebaut. Und wie schön es fliegen konnte. In der großen Küche aber war kein Platz zum Fliegen und das Wohnzimmer war tabu. Aber da gab es ja noch den Flur. Der war ideal als Flugplatz geeignet. Hier konnte das Flugzeug auch einen Abstecher ins Badezimmer oder ins Schlafzimmer unternehmen. Dort lag der Vater krank im Bett. Er hatte nichts gegen die Fliegerei. Und das Spiel wurde immer wilder, immer schneller, immer besser. Zielfliegen war angesagt. Wie muss das Flugzeug abgeworfen werden, damit es weich in der Badewanne oder direkt neben dem Badeofen landet? Doch dann flog das Balsaholz doch irgendwo anders hin und er versuchte es noch einmal. Hartnäckigkeit zeichnet den Gewinner aus.

Doch am Ende hat er es doch verloren, das geliebte Flugobjekt. Es entschwand aus dem offenen Flurfenster mitten auf das Vordach. Dort lag es, unerreichbar, es sei denn … Dem Vater konnte er nichts erzählen, der hätte sich nur aufgeregt, und er war krank. Kranke benötigen Bettruhe, das hatte der Arzt verschrieben. Und Mutter? Sie war nicht da. Bestimmt einkaufen. Sonst hatte sie ihn immer zum Einkaufen geschickt. Er war allein. Allein auf sich gestellt. Also, warum nicht aus dem Fenster klettern, auf das Vordach und sich dann das Flugzeug einfach holen? Er war schon groß genug, um aus dem Fenster zu steigen. Auf dem Vordach fand er zunächst keinen richtigen Halt. Es war mit Moos bedeckt. Glitschig – wie eine Eisbahn im Winter. Da sind sie immer geschlittert. So nannten sie es, wenn sie mit den Schuhen auf der Eisbahn rutschten. Das Vordach war ein wenig geneigt. Zuerst fand er noch Halt am Fenster. Dann bückte er sich und hielt sich am Dach fest. Dort gab es Haken, an denen er sich festhalten konnte. Er lag auf dem Bauch, seine linke Hand hielt den Dachhaken und die andere streckte sich nach dem Flugzeug. Er war noch zu weit weg. Ein paar Zentimeter nur. Er rutschte etwas nach rechts. Jetzt war er fast dran am Flugzeug. Mit dem Mittelfinger konnte er es schon greifen, aber der rostige Rettungsanker gab nach. Langsam zuerst nur – und er schaute auf seine linke Hand. Hochziehen konnte er sich nicht, dann würde das gebogene Eisen herausgerissen werden. Doch so auf dem Bauch liegenbleiben konnte er auch nicht. Ein Dilemma, wie so oft in seinem Leben. Noch hielt der Haken, wurde aber immer länger. Das Kind sah, wie sich der Dachhaken Millimeter für Millimeter aus seiner Verankerung löste, und es war nur eine Frage der Zeit, bis er endgültig nachgab. Der Blick des Jungen war jetzt starr auf den Haken gerichtet. Das Flugzeug existierte nicht mehr, nur noch seine Hand und das Eisen. Und an der Hand war sein Rest, der drohte hinab zu rutschen vom bemoosten Vordach. Warum war er nur auf das Dach geklettert?

Er rutschte. Zuerst nur langsam, dann konnte er sehen, wie das Fenster immer weiter weg rutschte. Jetzt hatten seine Beine auch schon die Dachrinne erreicht. Da konnte er sich festhalten. Noch versuchte er, sich mit seinen Fingern im bemoosten Dach zu fest zu krallen, aber er fand keinen Halt mehr. So glitt er dem freien Fall entgegen, und als er schließlich die Dachrinne in den Händen hielt, war er längst zu schwach, sich zu halten. Zu schwach, sich daran festzuhalten. Zu schwach, um sich selbst Halt zu geben. Zu schwach, um den Fall zu verhindern.

Der Rest war eine Sache von Sekunden. Er fiel vom Dach. Unten befand sich der mit Basaltsteinen gepflasterte Vorhof. Er schlug hart auf. Auf sein Kinn schlug er auf. Der Schlag raubte ihm das Bewusstsein. Er musste sich wie eine Katze im Fall noch gedreht haben, sonst wäre er mit dem Hinterkopf auf das Pflaster geknallt. Das wäre es dann gewesen. Es herrschte Totenstille. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden Stille. Eine sehr lange Zeit für den Vater, der seinen Sohn nicht mehr im Flur spielen hörte. Vier Sekunden. Es war immer noch still. Der Vater stand auf. Er schaute aus dem Schlafzimmerfenster, auf den Vorhof. Dort sah er ihn auf dem Pflaster liegen. Fünf Sekunden. Und er starrte ihn an. Jetzt war es doch geschehen. Der unvorsichtige Junge war gefallen. Er riss das Fenster auf. Sechs Sekunden. Er schrie und starrte auf den regungslosen Körper. Sieben Sekunden. Da war das erlösende Geräusch. Das, was er herbeigesehnt hatte. Die Stille hatte ein Ende. Der Junge schrie. Er spürte seinen Schmerz. Er kam wieder zu Bewusstsein. Das Leben hatte ihn wieder. Zwei blutenden Knie, keine Knochenbrüche, nur das Kinn aufgeschlagen. Eine Narbe wird bleiben, aber sonst war er wohlauf. Er wurde neben seinen Vater ins Bett gelegt. Zwei Kranke hatte die Mutter nun zu versorgen.

Die Erinnerung verschwindet im Herbstgrau. Er hat den Fall überlebt und ist sich heute gewiss, dass er ohne Schmerzen ist. Der Fall ist nichts und der Aufprall auch nichts, wenn du bewusstlos oder aber tot liegen bleibst. Er sieht sich auf einem Dach. Viel höher als das Vordach, und er könnte springen, ja, weil er keine Schmerzen empfinden würde, weil alles sehr schnell ginge, weil alles sehr leicht wäre, weil alles eben genauso unspektakulär wäre wie das Hinfallen. Mehrmals ist er in seinem Leben gefallen, aber nie konnte er den freien Fall bewusst erleben. Dieses Gefühl der Schwerelosigkeit, nur für wenige Sekunden. Was würde er dafür geben?

Er verlässt den Ort. Er steigt in sein Auto. Fährt zur nächsten Tankstelle. Ein Plakat fällt ihm auf. Es gibt einen Flugplatz am Ort. Segel- und Motorflug, Fallschirmspringen, alles, was der fallsüchtige Urlauber braucht, um sich wieder zu spüren. Alles, was das Dorf als einen Urlaubsort erhält. Die Hotelzimmer sind belegt mit Fallsüchtigen. Hier haben sie ihr Paradies gefunden. Überlegen muss er nicht. Er wird nicht wieder zurück in die Großstadt fahren. Er wird hier bleiben, an dem Ort seiner Kindheit wird er bleiben, und den Fall vielleicht hundertmal wiederholen, damit er endlich weiß, wie es ist, wenn man fällt.

© GOO, Oktober 2012





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