Aus der Hüttenwerkstatt
Von denen die es gar nicht gibt
- Geschrieben von: Birgit Ohlsen
Die, von denen dies handelt, gibt es im Grunde gar nicht. Sie tauchen in keiner Statistik auf. Weder die Bundesanstalt für Arbeit kennt ihre Namen noch das örtliche Sozialamt. Ihre Nachbarn heißen Ich und Du, und du kennst sie wohl genauso wenig wie ich.
Sie selbst scheinen längst vergessen zu haben, dass sie je einen Namen trugen. Selbst die Polizeibehörden entbehren in ihren Dateien jeden Hinweises auf die Existenz dieser Existenzen – und das will schon etwas heißen. Lebten sie hier und nicht dort, fielen sie dir auf.
Gewiss fielen sie dir auf:
Da ist der mit dem langen, grauen, bereits reichlich ausgedünnten Bart, hinter dem er sein fahles, bereits runzliges Gesicht zu verbergen sucht.
Oder der, der mit lorbeergekrönten Cäsarenhaupt und Tischtuch-Toga majestätisch durch die Menge schreitet und ständig auf der Suche scheint nach irgendwem oder irgendwas.
Schließlich der, der wieselflink zwischen Stelzenbeinen hindurch huscht, sich hin und wieder im Gedränge sehnsüchtig an eng beieinander stehende Körper schmiegt, ohne bemerkt zu werden. Wirklich, er fällt genauso wenig auf wie die anderen – wie viele sie auch sein mögen.
Ich bin nicht einmal sicher, ob sie sich untereinander kennen. Mag sein, dass jeder von ihnen den Glauben an seine Einzigartigkeit bewahrt hat.
Haben sie Hunger, so ist es für sie ein Einfaches, diesen zu stillen an den Trögen, die hinter den Kantinentrakten von Großbetrieben bereitstehen für irgendeinen unbekannten Zweck. Oder aber sie verzehren die Brot- und Kuchenreste, die diejenigen, die dafür bezahlt haben, zurückgelassen haben auf den Tischchen, die vor Schnellrestaurants aufgestellt sind. Keiner nimmt davon weiter Notiz – und, bemerkte es je einer, es kümmerte ihn gewiss nicht weiter.
Den anderen, zuweilen größeren Hunger aber befriedigen sie ab und zu in der Dämmerung, wenn die Fußgängerzonen sich geleert haben, indem sie sich unauffällig entlangdrücken und auch verweilen vor jenen Schaufenstern, von denen Mütter ihre aufgeweckten Kinder ärgerlich fortzerren, und sie sehen sich so lange satt, bis ein verschämt um sich schauender Familienvater, ein selbstbewusster, gelockter und goldkettchenbehängter junger Herr sie rüde vom Platz drängt oder eine hochhackige, neonglitzernde Dame ihnen den Standpunkt keifend streitig macht.
Oder, und dies geschieht dann meist in der Winterzeit, sie wärmen sich auf in öffentlichen, gut geheizten Bibliotheken. Zuvor tasten sie dabei nach dem Passierschein, den ein jeder von ihnen vorsorglich bei sich trägt und den sie Tag für Tag mit einem beliebigen Zielvermerk selbst versehen. Hier sitzen sie dann auf ioneskischen Stühlen, lassen Gedichte von Trakl und Rilke in sich gleiten, führen heiße Streitgespräche mit Hölderlin und Freud, schlafen ab und zu mit Madame Pompadour oder der Marquise von O. Dabei fürchten sie keinen mehr als Godot oder dass einer, irgendein anderer, dahinter kommen könnte, irgendwann, aus welchem Grunde die Bücher so nach und nach an Inhalt verlieren. Zur Nachtruhe betten sie sich in verwaiste, unbelegte Kleiderspinde, lassen sich umschließen von gutmütigen Wachleuten.
Fast bin ich dessen sicher, dass sie dann ab und zu sogar, jeder für sich, träumen von längst vergangenen Zeiten.
Von Zeiten, als sie noch dazugehörten.
Von Zeiten, als sie noch wer waren:
Mehrstellige Personalnummern zum Beispiel.
Nummern wie du und ich.
…….
©bio
Veröffentlicht in: Das Taubstummenhaus. Schweinfurt 2004
Vom fröhlichen Vergessen
- Geschrieben von: Birgit Ohlsen
Damit hätte er nun wirklich nicht gerechnet. Von einem Tag auf den anderen, so kommt es ihm vor, habe seine Gedächtnisleistung einen Einbruch erlitten. Dies berichtet er in einem vertraulichen Gespräch dem H. Wo du dies sagst, entgegnet jener, vor nicht ganz zehn Minuten bekam ich einen Anruf von … und er sieht sein Gegenüber ratlos an. Und ich weiß jetzt ums Verrecken nicht mehr, wer …. was … Vielleicht war ich’s, ja, gibt der Erste zu bedenken, bemüht, der Erinnerung seines Gegenübers auf die Sprünge zu helfen. Könnte es sein, ich kündigte mein Kommen an? Diese Vergesslichkeit aber auch, fügt er hinzu, vielleicht sollte ich mir das demnächst doch besser aufschreiben? Er sucht in der linken Brusttasche seines Hemdes, dann in der Hosentasche nach seinem Notizbuch, findet es schließlich in der rechten äußeren Jackentasche, macht sich Notizen und verabschiedet sich bald, denn er hat seinem Nachbarn, F., zugesagt, ihm noch eine Packung Schwarzer Krauser vom Kiosk mitzubringen. Das Notizbuch lässt er übrigens liegen. Kaum hat er das Haus des H. verlassen, eilt er zum Kiosk, denn diesen Auftrag hat er sich gut gemerkt, darauf ist er stolz. Kiosk-Kiosk-Kiosk murmelt er vor sich hin, so lange, bis er vor dem Eckhaus steht, in dem der Kiosk die komplette untere Etage einnimmt. Hier kommt ihm die Nachbarin R. entgegen, die wiederum kurz stehenbleibt und ihn ein wenig irritiert ansieht, als erkennte sie ihn nicht gleich. Ein wenig aufgeregt kommt sie ihm vor, und ihre Frisur sitzt heute nicht so recht. Und – trug sie nicht für gewöhnlich eine Brille? Ich sollte mir das demnächst aufschreiben, murmelt sie und eilt davon. Kopfschüttelnd sieht er ihr nach. Dann setzt er seinen Weg beschwingt fort, lässt Kiosk Kiosk sein, Schwarzer Krauser Schwarzer Krauser, spitzt die Lippen, um eine Melodie zu pfeifen, deren Tonfolge ihm wiederum nicht einfallen will. Egal. Also lässt er es bleiben, komponiert spontan eine nie zuvor erdachte Tonfolge und pfeift sie fröhlich vor sich hin. Welch ein Glück doch, freut er sich, dass wenigstens ich sie noch alle beisammen habe!
Väterchen Frost / oder: Eine große Kälte ist über die Stadt gekommen
- Geschrieben von: Birgit Ohlsen
Es gab eine Zeit, zu der wir nicht im Traum daran gedacht hätten, einst der weisen Vorsorge unseres Finanzsenators unser Wohlbefinden, vielleicht gar unser Überleben zu verdanken… Zunächst hatten wir uns, dies sei im Nachhinein voller Scham eingestanden, über seine Vorschläge zur Lebensführung seiner weniger begüterten Untertanen noch amüsiert und ihn für eine Art verschrobenen Individualisten gehalten, wie es ihn seit Jahrzehnten in der politischen Landschaft unserer Republik nicht mehr gegeben hatte. Später aber, als wir durch einen unglücklichen Umstand (auf den ich hier aus Datenselbstschutzgründen nicht näher eingehen möchte) selbst nicht mehr umhinkamen, seine uns zunächst eigenartig karg anmutenden Menüvorschläge in die Tat umzusetzen, erkannten wir alsbald die weise Vorausschau eines liebenden Vaters. Recht bald spürten wir an unseren eigenen Leibern, dass die uns von hoher Stelle verordneten Lebenshaltungsregularien ebenso nahrhaft wie unserer körperlichen Gesundheit zuträglich waren: Wir nahmen ab. An Gewicht, wohl gemerkt, denn unser Geist erhellte sich durch Askese, und nie zuvor bedachte eigene Gedanken beflügelten unser bis dato aus (zugegeben) besonders viel ungenutzter Freizeit bestehendes Dasein. Noch besser ging es uns allerdings, als wir die uns so klug durchgerechnete zugestandene Tagesration von Woche zu Woche ebenso klug jeweils um die Hälfte zu rationieren verstehen gelernt hatten. Wenige Tage vor Jahresende, (wir ernährten uns jetzo nurmehr von Haferflocken und einem bis zu zehnmal wieder verwendbaren Beutel Kamillentee), beschlossen wir einstimmig, aus der vermeintlichen Not eine Tugend zu machen und unserem geliebten väterlichen Impulsgeber S. in puncto Kreativität nachzueifern. Selbstverständlich wollten und konnten wir keine seiner Ideen plagiieren, so viel bzw. so wenig verlangte der Respekt vor dem Hohen Herrn sowie unsere immer noch bewahrte Selbstachtung. Von unserem letzten Umzug hatten wir – dafür sind wir der Firma Z. in Berlin-K. heute noch dankbar – einige immer noch gut erhaltene Filzdecken aufbewahrt, die sich nunmehr, mittels einer Schicht kälteisolierender Luftpolsterfolie (eine weitere dankbare Verbeugung in Richtung Kreuzberg!) mit einigen wenigen Handgriffen zu kuttenartigen Umhängen verarbeiten ließen. (Danke, Paul, für die noch recht ordentlich aussehende Nähmaschine vom Sperrmüll in der Wollankstraße!)
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Spaziergänger auf dem Dach
- Geschrieben von: Birgit Ohlsen
Manchmal, wenn ich von meinem Schreibtisch aus zum Fenster hinaus schaue, sehe ich auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes einen Mann spazieren gehen. Er hält einen Stock in der Hand und trägt einen Hut auf dem Kopf. Zur rechten, äußeren Seite beginnt er seinen Weg, um dann zügig zum linken Giebel voranzuschreiten, wo er sich hinter dem Kamin zu schaffen macht. Nie habe ich ihn den Weg zurückkehren sehen.
Heute aber bin ich auf der Hut gewesen, habe den Wecker gleich neben meinen Arbeitsplatz gestellt und mich bemüht, das Dach im Auge zu behalten.
Ich könnte also einen Eid darauf schwören, dass der Spaziergänger an diesem Vormittag den Weg sehr wohl hin, aber keineswegs zurückgegangen ist.
Als es gegen Mittag Zeit für einen kleinen Imbiss geworden war, verließ ich kurz meinen Platz. Dennoch hielt ich stets meinen Blick auf den linken Giebel des Nachbarhauses gerichtet. Ich war nicht einmal erstaunt, als dort nach wenigen Minuten schon an Stelle des Erwarteten eine Krähe stand. Sie sah sich nicht um, tippelte zügig in die gegenüberliegende Richtung, um dort ein wenig zu verweilen. Dann breitete sie ohne besonderes Aufhebens ihre Flügel aus, wie das so Krähenart ist, wandte den Kopf je einmal zur Rechten, dann zur Linken, flatterte ein wenig – und hob sich schließlich in die Lüfte.
Am nächsten Morgen war ich schon früh auf der Hut. Neben meinen Schreibtisch hatte ich einen Schemel gestellt, auf dem etwas zum Essen und zum Trinken stand, und auch den Wecker hatte ich nicht vergessen. Also war ich gut versorgt für die Zeit des Beobachtens. Ein kleiner Feldstecher sollte mir dabei behilflich sein, jedes neu eintretende Ereignis auf dem Nachbardach zu erfassen.
Kaum eine halbe Stunde hatte ich warten müssen, da wiederholte sich das Spiel vom Vortag. Allerdings geschah es diesmal, dass es nun die Krähe war, die zügig vom rechten Giebel zum linken voran tippelte und dort aus meinem Sichtfeld verschwand.
Gegen zwei Uhr am Mittag wurde meine Geduld schließlich belohnt: Der Mann betrat, und dies war das Besondere an diesem Tag, das Dach vom linken Giebel her. Diesmal allerdings trug er nur den Hut auf dem Kopf und keinen Stock in der Hand – all dies vermerkte ich später in meinem diesbezüglichen Protokoll. Es dauerte diesmal exakt zwei Minuten länger als am Vortag, bis er sein Ziel erreicht hatte. Das rührte wohl daher, dass er sich, nachdem er knapp zwei Drittel des Wegs zurückgelegt hatte, vorsichtig umsah. Einmal nach rechts und einmal nach links. Dann setzte er hastig seinen Weg fort, als sei er an eine exakte Zeitvorgabe gebunden, erreichte den rechten Giebel binnen kürzester Zeit, da er die letzten paar Schritte beschleunigt hatte.
Fast hätte ich einen Schlussstrich unter meine täglichen Aufzeichnungen gezogen, da bot sich mir ein unerwartetes Schauspiel: Am Ziel angekommen, ruderte der Mann unversehens unruhig mit den Armen in der Luft, als drohte er zu straucheln. Schnell aber hatte er sich wieder gefangen. Er brachte seine seitwärts ausgestreckten Arme ins Gleichgewicht, flatterte ein wenig auf der Stelle, wandte den Kopf einmal zur Rechten, einmal zur Linken, sah nicht unter sich – und hob sich schließlich in die Lüfte.
© BIO, 2005
Sieben Minuten
- Geschrieben von: Birgit Ohlsen
Nicht weit von meinem Wohnhaus entfernt fand ich einmal eine Armbanduhr. Ich bückte mich, hob sie auf und betrachtete sie von allen Seiten. Sie schien reichlich abgenutzt zu sein, dazu war das Leder gerissen und die Zeiger standen still.Und da sich der Fundort in unmittelbarer Nähe eines Abfallbehälters befunden hatte, nahm ich an, jemand habe sich des unansehnlichen Stücks entledigt. Ich nahm es kurzerhand in meinen Besitz,steckte es wie beiläufig in meine Jackentasche und vergaß es zunächst darin. Als ich mich seiner an einem der folgenden Tage wieder erinnerte, ließ ich es auf dem Weg zur Arbeit beim Uhrmacher richten. Erst, als sich erwiesen hatte, dass das Uhrwerk an sich in Ordnung war, ließ ich das abgenutzte Lederarmband durch eines nach meinem Geschmack ersetzen. Gleich nach Verlassen des Geschäfts band ich die Armbanduhr um mein linkes Handgelenk und trug sie fortan, als hätte ich nie eine andere besessen.
Es dauerte nur wenige Tage, bis mir auffiel, dass sich etwas in meinem Leben geändert haben musste. Noch wusste ich diese Veränderungen nicht mit meiner neuen Uhr in Zusammenhang zu bringen. Zunächst fiel es wohl anderen auf, denn es hatte bislang keineswegs meiner Art entsprochen, zu früh zu einer privaten Verabredung zu erscheinen oder gar zu einem geschäftlichen Termin. Auch gewann ich den Eindruck, man munkelte in meiner Umgebung bereits, aus welchem Grunde ich mich zuweilen bereits vor Beginn eines Empfangs neben den angerichteten Canapés aufhielte. Auch der Fahrplan des Busses, mit dem ich wochentags zur Arbeit fahre, schien sich verschoben zu haben. Es werden wieder einmal Bauarbeiten auf der Strecke sein, dachte ich, als mir dies zum ersten Mal widerfuhr, und ich übte mich in Geduld. Anfangs überbrückte ich die Wartezeit mit meiner aktuellen Lektüre, später gewöhnte ich mir an, einen Stift und ein Notizbuch bei mir zu tragen. Und las ich nicht oder schrieb ich nicht, so inspizierte ich die Rhododendronhecke am Straßenrand auf der Suche nach neuen Knospen, oder ich unterhielt mich mit den Spatzen, die gleich daneben in einer Holunderhecke ihr Saisonquartier bezogen hatten. Dennoch erreichte ich tagtäglich zur gewohnten Zeit und ohne jede Verspätung meine Arbeitsstelle, war ausgeruht und bei bester Laune. Es war eine schöne Zeit, die nun angebrochen war, ich fühlte mich freier und zufriedener als je zuvor,//konnte ich mich doch darauf verlassen, dass der große Zeiger meiner Armbanduhr nie mehr als sieben Minuten vorging.
Wie es die Art von zufriedenen oder gar glücklichen Episoden ist, so endete auch diese eines Tages abrupt. Um es kurz zu machen: Ich verlor die Uhr und konnte, als ich den Verlust bemerkte, nicht mehr nachvollziehen, wo sie mir vom Handgelenk gerutscht sein könnte.Auch in der Folgezeit suchte ich sie vergebens. Ich ging so weit, dass ich handgeschriebene Suchanzeigen an Ampel- und Laternenmasten befestigte.
Eine Lücke ist in meinem Leben entstanden. Ein Verlust, den auszugleichen ein schier unmögliches Unterfangen zu sein scheint. Noch immer befrage ich Menschen, denen ich begegne, ob sie nicht eine Uhr gefunden hätten, die exakt sieben Minuten vorgeht. Sie sehen mich ein wenig verständnislos an, manche wollen behilflich sein. Kaputte Uhren werden mir angeboten, besonders wertvolle Uhren ohne Zifferblatt, die dennoch leise ticken. Doch keine dieser Uhren kann mir gefallen.
Ich gehe nun ohne Uhr aus dem Haus. Es stört mich nicht, wenn mir der Bus vor der Nase wegfährt oder wenn er gar eine halbe Stunde Verspätung hat. Ich trage die 7 Minuten tief in mir verborgen – egal, wie lange sie in Wirklichkeit dauern. 7 Minuten, die dem Beobachten, dem Lauschen, dem Ersinnen von Geschichten gehören.
Dass ich meine Uhr nicht wiederfinden werde, ahne ich. Solltest du sie aber einmal finden, so hüte sie gut.
Sie schreit...
- Geschrieben von: Birgit Ohlsen
Sie schreit... oder: Denkt bloß nicht, bei uns wär' es anders gewesen
Sie schreit. Verdammt, wie diese Frau schreit!
Als stünde sie unter Schock.
Sie steht unter Schock.
Schreit und schreit, und das alles nimmt kein Ende. Schaukelt hastig mit dem Oberkörper hin und her und her und hin. Presst beide Hände gegen den rechten Oberschenkel, schreit und schreit.
Gleich sind wir da, sagt der, der den Wagen fährt.
Gleich sind wir beim Doktor, sagt der, der uns eben als Anhalter in seinen Wagen aufgenommen hat. Schnell, beeilt euch, hatte er gesagt dabei und wir hatten erst nicht verstanden, warum.
Das war, als wir einfach nicht mehr konnten vor Erschöpfung, als wir rennen mussten, als sei es um unser Leben.
Gleich sind wir da, sagt er mehr zu sich selbst, und er wiederholt diesen Singsang, während er mit der Linken lenkt. Mit der Rechten streicht er der Frau übers Haar, als streichle er, gedankenversunken, eine Katze oder einen Hund. Dabei starrt er verbissen auf die schmale Asphaltbahn, die sich langsam, viel zu langsam auf das nächste Dorf zu schlängelt.
Und die Frau daneben hört einfach nicht auf zu schreien, vielleicht nimmt sie's selbst längst schon nicht mehr wahr. Schaukelt weiter hin und her und her und hin. Kaum wage ich es, hinzusehen, kann mich selbst kaum noch rühren. Hab nur den einen Wunsch, den Kopf irgendwo anzulehnen und zu schlafen, tief zu schlafen. Bin dennoch neugierig. Neugierig genug, hinzusehen, herauszufinden, warum. Sehe, wie in Trance, den Grund für ihr Schreien: Die Jeans sind am rechten Oberschenkel in glattem, vertikalem Schnitt aufgeplatzt bis hinab zum Knie, schwarzgeschwollnes rohes Fleisch quillt hervor – ich schlage abrupt eine Hand vor den Mund und wende mich zur Seite. Hab ein entsetzliches Kotzgefühl und fürchte, mein Kopf zerspringt.
Nur weg hier, nur weg.
Der Wagen hält, als wir ins Dorf kommen. Vor einem der idyllischen Häuschen steht ein alter Mann und jätet seinen Gemüsegarten.
Einen Arzt! ruft der Fahrer, und das klingt wie ein Hilfeschrei in äußerster Not, wo gibt’s hier einen Arzt!
Und die Frau hört noch immer nicht auf zu schreien.
Der Alte hält sich eine Hand hinter die rechte Ohrmuschel, beugt sich etwas vor und fragt behäbig und so, als habe er alle Zeit dieser Welt zur Verfügung: Wat sechst du? Und ich verfluche insgeheim diesen unschuldigen, schwerhörigen Alten.
An der nächsten Straßenecke lassen wir uns raussetzen, der Wagen fährt weiter mit der noch immer schreienden Verletzten. Weiter in den nächsten Ort.
Später erst erfahren wir, was geschehen ist:
Eine Frauengruppe war es, die sich demonstrativ friedlich vor eine Polizeibarriere gesetzt hatte an diesem strahlenden Septembermorgen des Jahres 1982. Ein Zusammenschluss mutiger Frauen vor dem zu errichtenden atomaren Endlager in Gorleben. Sie saßen da, fest entschlossen, ihren Unmut friedlich und zugleich trotzig zum Ausdruck zu bringen. Sangen ihre Lieder, fassten sich bei den Händen, um Ängste zu lösen, Stärke und Mut weiterzuleiten. Auch noch, als der Wasserwerfer kam.
Wasserwerfer kannten die meisten von uns bereits. In Erwartung der altbekannten Prozedur hüllten die Frauen sich in ihre Regenjacken; Säureschutz gehörte ebenso zur Ausrüstung wie die feuchten Tücher, die vor Mund und Nase gepresst wurden, um gegen das mögliche Einatmen ätzender Dämpfe geschützt zu sein.
All dies kannten sie.
Die Frauen sangen auch noch, als die Wasserwerfer angestellt wurden. Als die Düsen in vier Meter Entfernung auf die nun unmittelbar vor den grün gepanzerten Monstern Sitzenden gerichtet und in Betrieb genommen wurden.
Auf dem Zeltplatz angekommen, hören wir durch den Lautsprecher, dass einige Verletzte in den umliegenden Krankenhäusern liegen:
Starke Prellungen, Rippenbrüche, eine Herzquetschung und anderes. Es werden keine Namen genannt, und doch wissen wir, es sind welche von uns. Und einer an der Wasserstelle hat sich auf die untere Stufe einer Holzleiter gesetzt und liest aus einem Büchlein, als lese er es sich selbst vor:
... Wasser-Waffen:
Fahrbare Wasserwerfer mit ca. 5 atü bei einer Wurfweite von 30 Metern ( WaWe 4) gehören schon längst zum gewohnten Bild von Demonstrationseinsätzen der Polizei. Seit 1980/81 gibt es zwei verbesserte Versionen – Großwasserwerfer (WaWe 9) mit 15 atü und einer Wurfweite von 60 Metern - ebenfalls fahrbar... „Wasserkanone“: sie wird mit Schläuchen an einen Hydranten angeschlossen, so dass – im Gegensatz zu den herkömmlichen Wasserwerfern – pausenlos mit Wasser, dem auch Kampfgas beimischbar ist, „gefeuert“ werden kann... Bei einem – von Polizisten geschätzten – Druck von über 15 atü werden den Beschossenen buchstäblich die Beine weggeschleudert; bei einer geringen Entfernung sind schwere innere oder gar tödliche Verletzungen nicht auszuschließen (...)1
Wir hatten sie nicht nach ihrem Namen gefragt, wir hatten ja nicht einmal versucht, Erste Hilfe zu leisten. Kaum hatten wir ihr ein paar beruhigende Worte sagen können. Versprochen haben wir ihr jedoch, vielleicht auch nur, um sie zu beruhigen, den anderen zu berichten. Von diesem kleinen, gemessen am Weltgeschehen unwesentlich erscheinenden – und in keiner Zeitung jemals auftauchenden – Ereignis. Von dieser kleinen Begebenheit im Herbst 1982, in dem wir noch voller Hoffnung gewesen waren. Voller Hoffnung, der Vernichtung unserer Welt, wie wir sie liebten, mit all unserer Kraft, unserem Lachen und unserem Singen – zuletzt mit unseren eigenen Körpern – Einhalt gebieten zu können.
© Birgit Ohlsen, veröffentlicht in „Das Taubstummenhaus“. Schweinfurt, 2004
1 Gössner, Rolf u. Uwe Herzog, Der Apparat. Köln 1982
Rot I / Mein wunderschöner neuer Hut (Neu!)
- Geschrieben von: Birgit Ohlsen
Einen roten Hut hab ich mir heute gekauft, so rot, so rot.
Er hätte auch grün sein können, mein neuer Hut. Ich hatte mal einen grünen – der aber ist jetzt alt und verfilzt, der grüne Hut. Er stand mir überhaupt nicht, er stand mir überhaupt nicht.
Er hätte schwarz sein können, der neue Hut, aber so einen trug ich mal zu einem Begräbnis, und er flog davon mit dem Wind, der schwarze Hut. Ich hoffe, er kehrt nie mehr zurück, der schwarze Hut. Er stand mir überhaupt nicht, er stand mir überhaupt nicht.
Heute hab ich mir einen roten Hut gekauft, und er steht mir so gut, dass es eine wahre Freude ist, und er passt mir so gut.
Hier sitze ich auf meiner grünen Bank, die goldne Sonne hat die schwarzen Wolken vertrieben und lacht mir ins Gesicht – und jedermann bestaunt meinen wunderschönen roten Hut.
© bio
Rabbitz
- Geschrieben von: Birgit Ohlsen
Seit einiger Zeit haben wir neue Nachbarn.
Zunächst haben wir sie nicht bemerkt. Auch ihren Namen erfuhren wir trotz aller neugieriger Blicke auf das entsprechende Namensschild am Klingelbrett nicht.
Was uns allerdings auffiel, das waren in der folgenden Zeit recht ungewohnte Geräusche über unseren Köpfen. Zunächst war nur ein Scharren zu hören, dann ein Rollen, ab und zu ein rhythmisches Klopfen. Letzteres vernahmen wir vor allem nachts. Lassen wir ihnen Zeit, redeten wir uns während der ersten Wochen noch gut zu, sie müssen sich eingewöhnen. Nach einer Schonfrist von drei weiteren Monaten waren die beschriebenen Geräusche noch immer nicht verstummt. Sie hatten, wie uns schien, sogar noch an Intensität und auch an Lautstärke zugenommen. Neu war nun dies seltsame Getrappel, das im Laufe der Zeit hinzugekommen war.
Sie werden Kinder haben, dachten wir und ertrugen die Geräusche ein weiteres halbes Jahr mit großer Geduld. Mit einer allmählich ansatzweise einsetzenden Gewöhnung nahmen wir in der nun folgenden Zeit nur noch dies heftige, rhythmische Klopfen wahr, denn es riss uns regelmäßig aus unserer tiefsten Schlafphase. Fünf Minuten, zwei Minuten Pause, fünf Minuten. Das ist normal, redeten wir uns ein, sie werden jung sein und verliebt. In der Folge wurden wir zu guten Kunden der nahen Apotheke. Nach der ersten Zweierpackung Ohropax folgten mehrere Familienpackungen, bis wir schließlich ein günstiges Dauerabonnement bei einer online-Apotheke abschließen konnten. Zu unserem zur lieben Gewohnheit gewordenen Abendtee gaben wir fortan eine zunehmende Dosis an Baldriantropfen. Als auch dies keine nennenswerte Abhilfe bewirkte, verlegten wir unsere Schlafstätten mal ins Badezimmer, mal ins Hochbett im Gästezimmer. Aber auch hier gab es kein Entrinnen vor dem nun rund um die Uhr zu hörenden Trappeln, Rollen, Klopfen. Einmal im Vierteljahr leisteten wir uns sogar ein Hotelbett.
Exakt in dieser Phase klingelte eines Tages der Paketbote an unserer Tür. Zwar tat er dies mehrmals in der Woche, um Pakete für diverse Hausbewohner bei uns zwischenzulagern. Dies eine Mal aber war die Sendung für unsere nun nicht mehr neuen Mitbewohner bestimmt. Ob wir sie annehmen könnten, fragte der Überbringer, es seien sehr große Pakete. Zwar schmal, aber so hoch – und er zeigte in seine eigene Schulterhöhe. Wir hatten Mitleid mit dem etwas schmächtigen Mann und sagten auch dieses eine Mal nicht nein.
Schließlich standen die übergroßen Pakete in unserem Flur und verstellten im Namen einer guten Nachbarschaft sowohl den Zugang zu unserer Küche als auch zum Schlafzimmer. In letzterem hatten wir uns – wie erwähnt – schon seit längerer Zeit nicht mehr aufgehalten. Selbstverständlich sahen wir uns auch dieses Mal die Aufschrift auf den Paketen etwas genauer an – schließlich wollen wir nicht für das Beherbergen unter Umständen strafbarer Hilfsmittel für die Anzucht etwaiger verbotener Gewächse haftbar gemacht werden. Dennoch wunderte ich mich, als ich auf dem Etikett eines der Pakete anstelle der allein schon wegen der Ausmaße erwarteten Bauteile für ein Kinderbett die schematische Konstruktionszeichnung zur Montage von Kaninchenställen erkannte.
Gegen Abend desselben Tages klingelte es an unserer Wohnungstür. Ein etwas untersetzter Herr mit tief ins Gesicht gezogener Schildkappe nahm erfreut die Sendung entgegen. Dabei klopfte er mit seinem rechten Fuß kurz hintereinander auf die Fußmatte und grinste mich mit einem unregelmäßigen Gebiss an, das mir seither wegen seiner mir ungewöhnlich ausgeprägt erscheinenden oberen Schneidezähnen im Gedächtnis verhaftet ist.
«Hast du seine Zähne gesehen?», fragte ich Paul, der währenddessen stumm an meiner Seite stand.
Am darauffolgenden Wochenende ertrugen wir fast mit Erleichterung das Hämmern, Bohren und Nageln über unseren Köpfen, denn es unterschied sich wohltuend von allen bisher ertragenen Geräuschen. Er wird die Ställe zusammenbauen, bemerkte Paul, das kann er von mir aus. «Wenn es nicht Wochen dauert?» gab ich, Böses ahnend, zu bedenken. Wider Erwarten war dies neue Geräusch bereits nach drei Stunden ausgestanden. Zur Feier des Tages genehmigten wir uns eine Flasche Rotkäppchen-Sekt. Seit mehr als einem Jahr hatten wir sie für eine besonders festliche Gelegenheit verwahrt – nun war diese Stunde gekommen.
Wir taten gut dran, denn bereits von der darauf folgenden Nacht an vernahmen wir aufs Neue das rhythmische Klopfen der anderen, bereits gewohnten Art. Wo immer auch wir von dieser Nacht an unser Lager aufschlagen mochten, wir wurden das Geräusch nicht mehr los. Selbst auf unserem Balkon, auf dem wir uns seiner geringen Ausmaße wegen hatten zusammenkrümmen müssen, fanden wir fortan keine Ruhe mehr. Keine, wirklich keine unserer bisher ergriffenen Geräuschdämmungsmaßnahmen wirkten mehr, auf keinem Quadratzentimeter unseres Wohnraums. Wir waren mit unseren Nerven ebenso buchstäblich am Ende wie mit unserem nachbarlich-mitmenschlichen Verständnis. «Gehst du?» konnte ich Paul an einem dieser Tage nur noch anflehen, so eindringlich, dass er sich endlich erbarmte. Auch er wusste keine andere Lösung mehr für unser Problem.
Kaum hatte er unsere Wohnung verlassen, hörte ich ihn schon wieder die Treppe herab eilen. «Hast ... du?», fragte ich ihn vorsichtig, denn irgendetwas musste ihn gerade heftig erschüttert haben.
Diese Ohren, stieß er hervor, so etwas von Ohren habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen!
Zu unserem Glück wurde in der nächsten Zeit eine Dachwohnung im selben Haus frei. Wir bekamen den Zuschlag, wenngleich wir nunmehr mit einer verminderten Raumanzahl vorlieb nehmen und deshalb auf einige unserer Möbel verzichten mussten. Auch die Zimmerdecken sind ein wenig niedriger als wir sie im Erdgeschoss hatten. Doch was ist dies schon gegen die Ruhe, die unermessliche, die mit nichts zu bezahlende Ruhe, die wir nun genießen. Über uns nichts als Stille. Ab und zu einmal das Geräusch eines gurrenden Taubenpaares.
Die aber machen es ganz, ganz leise.
Erschienen in: «Die schrägsten Berliner Zehn-Minuten-Geschichten», Horst Bosetzky (Hrsg.), Jaron-Verlag, Berlin, 2013, ISBN 978-3-89773-726-6
©BiO
Nuri. Der Stein
- Geschrieben von: Birgit Ohlsen
Nuri bückt sich.
Er befreit den Stein von Laub und Erde. Nimmt ihn auf. Schließt die Augen. Dann dreht er den Stein, betastet ihn. Streicht mit der Fingerkuppe des rechten Zeigefingers die scharfen Kanten entlang, behaucht die Oberflächen.
Der Stein schläft, das weiß Nuri. Man muss ihn nur wecken. Ganz behutsam.
Nuri kennt sich aus mit Steinen. Steine leben. Niemand wird so alt wie ein Stein und niemand ist so jung. Wer außer Nuri weiß schon, wie viel Leben ist im Stein. Nuri führt den Stein zur Stirn. Der Stein spürt die Haut und die Haut spürt den Stein. Schweiß mischt sich mit Tau, und Tautropfen benetzen das Haar.
Er wickelt den Stein in ein Tuch, legt ihn in den Korb zu den anderen. Daheim wird er die Schätze des Tages sichten. Er wird sich die Zeit dazu nicht nehmen müssen, sie gehört ihm.
Im Haus legt Nuri den Stein auf harten Beton und beklopft ihn mit dem Fäustel. Der Stein zerspringt in drei ungleichmäßige Teile. Nuri wiegt die einzelnen Teile in der Hand. Führt sie erst zum Auge, dann zum Ohr. Lauscht ihren Klängen: dem Rauschen des Flusses, dem Zwitschern der Vögel, dem Pfeifen des Sturms.
Nuri lächelt.
Er ist sanft wie der Fluss.
Nimmt den rauschenden Stein zur Hand und bemalt ihn mit der Farbe des sich im Kemijoki spiegelnden Himmels. Er ist stark wie der Baum.
Nimmt den zwitschernden Stein zur Hand und bemalt ihn mit der Farbe der Wälder Lapplands.
Er ist mächtig wie das Feuer.
Nimmt den pfeifenden Stein zur Hand und bemalt ihn mit der Farbe der Mitternachtssonne.
Er fügt den blauen Stein an den grünen, den grünen an den feuerfarbenen.
Er führt den dreifarbigen Stein zur Wange. Schließt die Augen. Spürt nacheinander und gleichzeitig die Kälte des nordischen Eiswindes, die Wärme der Frühlingssonne, die Hitze des Saunaofens.
Nuri ist glücklich.
Er ist jünger als diese Welt und älter als dieser Stein.
Er öffnet die Augen. Erforscht die schimmernde Haut des Steins und erkennt sein Gesicht.
Nuri lebt.
(Auszug aus: Birgit Ohlsen, Das Taubstummenhaus)